Menschikowstein

Bei der St.-Jürgen-Kirche in Heide steht ein oben abgerundeter Grabstein mit einem Doppelkreuz und altrussischer Inschrift in kyrillischen Buchstaben. Er sei genauso hoch wie die Kaiserin von Rußland, sagte man früher. Der Stein heißt im Volksmund seit alters her der »Menschikowstein« - obgleich nicht Alexander Menschikow, sondern der Fürst Griesanow hier begraben wurde.

In dem Städtchen Bèresow, nahe der sibirischen Eismeerküste, stand bis zur Revolution von 1917 ein ähnlicher Stein. Er hieß dort im Volksmund »Griesanowstein«, obgleich dort nicht  Griesanow, sondern des Zaren vormaliger Feldmarschall, Fürst Menschikow, begraben lag. Wie konnte das sein?

Zar Peter I. hatte sich aufgemacht, die Schweden aus dem Lande zu treiben. Sein Feldzug begann bei Narva und endete in Dithmarschen. Gleich zu Beginn brach eine Revolte aus, die Peter nur mit persönlichem Mut in einem ungewöhnlichen Duell verhindern konnte.
Peters Heer hatte die Stadt Narva, eine starke schwedische Garnison, eingeschlossen. In den ersten Reihen standen die runden Filzzelte der Kalmücken, der untersetzten, schweigsamen Männer aus der westlichen Mongolei. Die Kosakenzelte an den Flußufern - die Zelte der wilden Reiter von Don und Dnjepr - bestanden nur aus Zweiggerüsten, über die kostbare Pelze nachlässig ausgebreitet waren. In warmen Sommernächten hatten die Kosaken lieber den Sternenhimmel als ein geschlossenes Zeltdach über sich. Auf erhöhtem Grund und fast schon im Schatten der grauen Mauern von Narva stand in sauberer Ordnung der Stolz des Zaren - die Zelte der russischen Infanterie unter Bauer.

Bei Peter war seit kurzem eine neue Favoritin, ein geschorenes und gebrandmarktes schwedisches Dienstmädchen, das nie im Leben eine Schulbank zu sehen bekommen hatte und zuletzt im Hause eines deutschen Pastors als unterste Magd gedient hatte. Sie hieß Kathrina.
Am Abend vor dem Sturm auf Narva ging Peter mit ihr durchs Lager. Er ließ den Regimentsschneider rufen. »Koltschak!«, der Ruf ging, von den Soldaten weitergegeben, durchs ganze Lager. Ein kleiner Kalmück kam herbeigelaufen und verbeugte sich tief vor dem Zaren, der ihm einen gutmütigen Tritt versetzte. »Hör zu, Däumling«, sagte der Zar, »ich will eine Uniform für dieses Mädchen hier - eine Offiziersuniform der Moskauer Husaren.«
Der kleine Schneider warf einen prüfenden Blick auf Kathrina, um sich ihre Größe und Figur einzuprägen. Er ließ sich nicht anmerken, was er dachte, als er ihre Maße mit einer Schnur nahm, in die er Knoten machte. »Ja, Sire. Morgen?« - »Heute abend!«, brüllte der Zar. »Ich will nicht, daß irgendein verdammter Kosak über sie herfällt, weil er sie für eine Lagerhure hält!« Menschikow grinste, und Kathrina war froh, daß sie dem Zaren ins Zelt folgen konnte.

Als die Geschütze im Morgengrauen zu donnern begannen, schrak Kathrina aus dem Schlaf. Die Befestigungen von Narva lagen noch im Frühnebel. Aber an einer Stelle zeigte sich bereits die Wirkung des russischen Feuers. Bald war die Bresche breit genug. Der Zar, der bei den Geschützen stand, fuhr sich mit dem Handrücken über die vom Pulverdampf geschwärzte Stirn. »Das genügt«, sagte er. ”Gebt das Signal zum Angriff!«
Minuten später wurde am Westufer der Narva wütend geschossen. Und Kathrina sah den exakten Angriff der Infanterie auf die Stadt. ”Mein Pferd«, rief der Zar, und galoppierte der Infanterie nach.

Drei Stunden später hatte sich die Garnison ergeben. Peter stand in Hemdsärmeln auf einem Balkon über dem Hauptplatz von Narva. Er gähnte in der warmen Sonne. Er hatte einen anstrengenden Vormittag hinter sich. Mindestens dreißig Schweden hatte er selbst niedergeschlagen, er hatte Karl Horn, den Kommandanten der Festung, geohrfeigt. Nun stand er auf dem Balkon des Rathauses.
Die Kosaken ritten, noch immer auf der Suche nach Opfern, durch die engen Gassen der Stadt. Sie warfen Brandfackeln in die Fenster der Häuser oder schlugen Türen ein, um zu plündern und zu morden. Die schlitzäugigen Samojeden schossen von der Straße aus mit Pfeilen nach Frauen, die mit ihren Kindern auf Hausdächer geflüchtet waren, um den Kosaken zu entgehen.
Ein Trupp Donkosaken galoppierte über den weiten Platz, und hinter den Pferden wurden Mädchen mit zusammengebundenen Knöcheln über das Pflaster geschleift. Auf der anderen Seite des Platzes hingen ältere Männer unter einem Marmorbalkon; die Russen hattendie Ratsherren der Stadt aufgeknüpft, soweit sie ihrer habhaft werden konnten.
Der Zar drehte sich nach Kathrina um, die hinter ihm stand. »Die Kosaken sind wie die Teufel«, sagte er, und sie geraten in solchen Augenblicken außer Rand und Band.« »Ist dieses schreckliche Morden nicht aufzuhalten?« fragte Kathrina; sie mußte sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. ”Bitte«, flehte sie, ”laß es aufhören... - »Du hast recht, Katja«, sagte der Zar plötzlich. »Das hier zu dulden, ist eines Herrschers des westlichen Abendlandes unwürdig.« Er versammelte einige Stabsoffiziere um sich und eilte mit ihnen auf den Platz hinaus.
Nach wenigen Metern traf er auf Artilleristen, die einen blonden schwedischen Jungen quälten, der vor ihnen im Staub lag. ”Aufhören!« befahl der Zar. Die Soldaten achteten nicht darauf. Wahrscheinlich hatten sie ihn gar nicht gehört. Peter zog sein Schwert und stach den nächsten Kanonier von hinten nieder. Dann riß er den Nebenmann an der Schulter herum. ”Hört auf damit!«, brüllte er wütend. Der Soldat grinste nur und schien gar nicht zu merken, wer vor ihm stand. Er wollte sich wieder dem Jungen zuwenden. Der Zar kam ihm zuvor und durchschlug ihm den Hals.
Dicht hinter dem Zaren kam Fürst Menschikow, und Kathrina folgte inmitten einiger Stabsoffiziere. »Halt! Aufhören! Hört auf!«, Peter brüllte, während er sich mit der Wache einen Weg durch seine eigenen Truppen bahnte. Die Offiziere blieben ihm dicht auf den Fersen, bis er die Mitte des Platzes erreicht hatte, wo sich die Kosakenführer aufhielten. Dann merkten auch die Kosaken, daß der Zar vor ihnen stand. Drohendes Schweigen breitete sich aus. Stenka, der sonst zum Stab des Zaren gehörte, stand bei den Kosaken. An einem Tag wie diesem wollte er unter seinen Landsleuten sein.
Der Zar überragte die Männer seiner Umgebung um mehr als Haupteslänge. Er zog sein Schwert und rief:
”Dieses Blut ist nicht schwedisches, sondern russisches Blut! Meine Männer benehmen sich in einer eingenommenen Stadt nicht wie Türken!«
Maceppa, der Hauptmann der Kosaken, war vorsichtig genug, zunächst zu schweigen. Aber Stenka, der sonst so langsam und schwerfällig dachte, ergriff das Wort. Er erinnerte sich an ein Gerücht, das seit Kathrinas Auftauchen im Lager umging. - ”Der Zar ist verhext worden!« Er trat zwei Schritte vor und schaute Kathrina an. »Von dieser Hexe in der Uniform eines Moskauer Husaren!«, fuhr er fort und spuckte Kathrina ins Gesicht. Unser Zar ist auch zu einem Weib geworden«, brüllte er dann, obwohl er die Uniform eines Soldaten trägt!«
Peter zog sein Schwert, um Stenka zu durchbohren. Aber einer der Offiziere hielt ihn am Arm fest. Wenn Sie ihn umbringen«, flüsterte er dem Zaren zu, »fallen die Kosaken über uns her.« Der Zar sah sich um und spürte, wie erregt die Kosaken waren und wie sie sicher in dieser Stimmung mit Gewalttätigkeit reagieren würden. Doch Peter wußte auch, daß er etwas unternehmen müßte, wenn er nicht das Gesicht vor seinen Männern verlieren wollte. Er ließ die Waffe fallen, riß dem nächsten Kosaken blitzschnell eine Peitsche aus dem Gürtel und traf Stenka mit einem gut gezielten Hieb am Oberarm. »Ich bin der Zar, du Schwein!« brüllte er, »ich könnte dich umbringen. Aber als Mann und Soldat will ich gegen dich kämpfen.«
Er wandte sich an Maceppa. Laß‘ zwei gleich lange Peitschen holen!« befahl er ihm. Hier auf diesem Platz wird das Duell ausgetragen. Und ich möchte wissen, ob ein Dnjeprkosak so gut wie einer vom Don mit der Peitsche umzugehen weiß - oder ob er nur ein Maulheld ist!« - Damit hatte der Zar einen Keil zwischen die aufsässigen Kosaken getrieben, und ihre Rivalität geschickt ausgenutzt.

Auf dem Platz waren vor allem Donkosaken versammelt. Er konnte damit rechnen, daß sein Gegner nicht allzu viel Unterstützung finden würde. Stenka rieb sich den schmerzenden Arm. Es ist verboten, die Hand gegen den Zaren zu erheben«, brummte er trotzig. »Dieses Duell ist doch nur ein Trick, damit ich in der Öffentlichkeit ein todeswürdiges Verbrechen begehe.« -  »Das hast du schon getan«, erklärte Peter ihm, »aber ich schwöre dir bei allen Heiligen, daß dir nichts geschehen soll, wenn du mich im ehrlichen Zweikampf besiegst.«
Stenka atmete auf. Von allen Kosaken war nur er so groß wie der Zar. Peter war vielleicht etwas breiter, aber Stenka hatte den Vorteil, mindestens zehn Jahre jünger zu sein. ”Einverstanden«, rief er. »Ich bin bereit, Euer Majestät das Fell von den Rippen zu schlagen!«
Menschikow hatte inzwischen in der Mitte des Platzes ein Rechteck für das Duell freimachen lassen. Kathrina war vor Angst kreidebleich. Hätte sie doch den Zaren nicht angefleht, das Massaker zu beenden. Es wäre nie zu diesem Zweikampf gekommen. - Läßt sich nichts mehr dagegen tun?« flüsterte sie Menschikow zu. - Dazu ist es jetzt zu spät. Der Zar hat schon früher Zweikämpfe mit Peitschen ausgetragen. Er versteht sich darauf.« Aber... kann er denn dabei nicht ums Leben kommen?«, fragte sie.
Peter hatte das Hemd ausgezogen und untersuchte nun die geflochtene Peitsche vom Griff bis zur bleibeschwerten Spitze. Sein Leben hing davon ab. Er trug einen breiten Ledergürtel, der seine Nieren schützen sollte.

Stenka stand ebenfalls breitbeinig mit nacktem Oberkörper und betrachtete seine Peitsche kritisch von allen Seiten. Er bog die Lederriemen zusammen, bis sie knirschten. Wurde eine Peitsche unbrauchbar, gab es keine Atempause zur Beschaffung einer neuen. In diesem Fall konnte der Gegner den Wehrlosen ungestraft zu Tode prügeln.
Menschikow gab sich Mühe, unbekümmert zu erscheinen, um Kathrina zu beruhigen. Die Peitschenduelle der Kosaken werden nach ganz einfachen Regeln ausgetragen«, erklärte er. Beide Gegner halten jeweils die linke Hand des anderen fest. Wer als erster fällt oder die Hand losläßt, hat verloren.
Ein Trommler hatte einen dumpfen Wirbel geschlagen. Als sich die beiden Männer jetzt einander näherten, brach der Wirbel mit einem Schlag ab. Die Gegner standen sich unbeweglich gegenüber, hoben die Linke und griffen nach der Hand des anderen. Beide versuchten sofort in die beste Position zu kommen. Die Armmuskeln zitterten vor Anstrengung. Dabei sahen sich die beiden Männer nicht an. Wieder ein kurzer Trommelschlag; das Zeichen zum Angriff.
Man sah jetzt, weshalb ein fester Griff so wichtig war: Als die geflochtenen Peitschen durch die Luft pfiffen, hatte der Zar es fertig gebracht, Stenka nach vorn zu reißen. Stenkas Peitsche traf die breite Schulter des Zaren und hinterließ eine rote Spur auf den Muskeln. Peters Schlag aber traf Stenkas Rücken am unteren Rückgrat. Das bleibeschwerte Ende grub sich tief in die Haut ein. Stenka gab keinen Laut von sich, begann jedoch von einer Sekunde zur anderen heftig zu schwitzen.
Wieder ein Trommelwirbel, während die Gegner schweigend miteinander rangen. Doch dieses Mal hinterließen die Peitschen harmlosere Striemen. Beiden war es gelungen, die Hand des anderen rechtzeitig hochzureißen und zu sich heran zu ziehen, so daß die Schläge kraftloser wurden. Die tödlichen Bleienden pfiffen ins Leere. Die Soldaten buhten lautstark. Als das nächste Zeichen gegeben wurde, waren beide Gegner darauf bedacht, keinesfalls vor dem anderen zurückzuweichen. Diesmal brüllten die Soldaten Beifall. Dnjeprkosaken feuerten Stenka an. Die russische Infanterie stand auf der Seite des Zaren. Die Kalmücken, Tartaren und Samojeden schlossen sich ihnen an.
Die Donkosaken schienen sich noch nicht entschieden zu haben. Menschikow glaubte zu hören, daß die meisten dem Zaren zujubelten. Er atmete erleichtert auf. Stand der Zar diesen mörderischen Zweikampf durch, war die Rebellion unterdrückt, bevor sie noch begonnen hatte.
Beim nächsten Schlagwechsel bekam Peter einen raschen Hieb auf den Oberarm, der die Haut aufplatzen ließ - aber Stenka ging in demselben Augenblick fast auf die Knie, so gewaltig war Peters Schlag gewesen. Kathrina rang nach Luft und lehnte sich gegen Menschikow. Die Trommelschläge folgten jetzt rascher aufeinander. Nach den ersten zehn langsamen Schlägen, die den Gegnern Gelegenheit gegeben hatten, sich abzutasten, folgten nun zehn schnellere Schläge, bei denen es auf Kraft ankam. Der Zar drängte den Kosaken vor sich her über den freien Platz, bis sie so nahe vor Kathrina standen, daß sie die Schweißtropfen auf der Stirn des Zaren zählen konnte.
Es folgten erneut zehn langsame Schläge. Der Zar spielte seine Übersicht aus, um jeden einzelnen zu seinem Vorteil anzubringen. Keiner der beiden Männer hatte bisher auch nur einen Laut von sich gegeben. Jeder Schlag, der jetzt fiel, traf auf ein scheußliches Muster vorhandener Striemen: Des Kosaken Kopf sank bei jedem Schlag tiefer. Er hielt sich nur noch mühsam aufrecht. Wohl schlug er bei jedem Zeichen zu, aber bei jedem Schlag, den er hinnehmen mußte, ging der große Mann weiter in die Knie - bis offenbar wurde, daß er vor dem Zusammenbruch stand. Seine Hosen, bis zu den Knien blutgetränkt, klebten an den Beinen. Die Soldaten lachten und schrien begeistert. Dies war ein Duell, von dem sie noch ihren Enkeln erzählen würden. Wer es miterlebt hatte, konnte damit rechnen, noch jahrelang in Kneipen frei gehalten zu werden, wenn er davon erzählte.
Stenka brach zusammen. Zuckend umklammerte er immer noch seine Peitsche. Die Trommel war verstummt. Der Zar hielt die Hand seines Gegners weiter fest und versetzte ihm noch einige Schläge - bis Menschikow vortrat und ihn am Arm packte.
Peter stand über seinen gefallenen Gegner gebeugt. Die Soldaten jubelten. Ein Stabsoffizier legte dem Zaren ein nasses Tuch über die Schultern. Erst jetzt schien Peter zur Besinnung zu kommen. Er richtete sich auf und ließ die Peitsche fallen. Stenka lag auf dem Rücken. Sein Mund stand weit offen. Er war bewußtlos und atmete röchelnd. Vermutlich hatte das bleibeschwerte Ende der Kosakenpeitsche den Hinterkopf verletzt. Seine Augen waren geschlossen.

Maceppa trat auf den Zaren zu. Dieses Duell war unterhaltsam und ein würdiger Abschluß eines siegreichen Tages gewesen. Die Kosaken waren mehr als zufrieden. Selbst die Dnjeprkosaken grinsten. Sie betrachteten Stenkas Niederlage nicht als ihre eigene. Hätte Stenka den Zaren besiegt, wäre er ihr Held gewesen. Da er unterlegen war, wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Was sollen wir mit ihm anfangen?«, erkundigte sich Maceppa. »Bringt ihn um«, entschied Peter. »Hätte er gesiegt, wäre er am Leben geblieben, wie ich es versprochen habe. Aber kein Unterlegener soll weiterleben und sich damit brüsten, den Zaren ausgepeitscht. zu haben.
Der Jubel der Kosaken kannte keine Grenzen. Das war eine Entscheidung nach ihrem Herzen. Maceppa trat an den bewußtlosen Stenka heran und sagte: »Er hat immer ein großes Maul gehabt. Jetzt wird er bald noch lauter sprechen. Wie eine Kanone wird er brüllen!« Er ließ sich ein Pulverhorn reichen und schüttete das schwarze Pulver in Stenkas offenen Mund bis es wieder herausquoll. Ein Kosak reichte seinem Hauptmann eine brennende Lunte. Maceppa entzündete damit das Schießpulver.
Kathrina wandte sich entsetzt ab. Sie hörte nur den dumpfen Knall. Die Revolution war beendet. Stenka hatte dafür bezahlt. Am Abend trafen sich die Offiziere des Zaren zum Siegesbankett im großen Saal des Rathauses von Narwa. Einige von ihnen waren Fürst Menschikows Beispiel. gefolgt und trugen Paradeuniform. Andere stellten stolz die blutbefleckten Waffenröcke zur Schau, in denen sie gekämpft hatten. Menschikow gegenüber hatte Griesanow Platz genommen. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Für Griesanow war Alexander Menschikow ein ungebildeter, großmäuliger Emporkömmling. Und in Menschikows Augen war Griesanow, der seine Vorfahren bis auf Jaroslaw und Rurik zurückführte, ein eingebildeter adeliger Taugenichts.
Peter, der neben Kathrina nicht am Kopfende, sondern inmitten der Tafel saß, trug keine Uniformjacke. Man hatte ihm ein Hemd aus holländischem Leinen in Öl getränkt und über die Schultern gelegt. Der Zar amüsierte sich sichtlich, lachte schallend über jede witzige Bemerkung und war trotz der ungeheuren Menge Alkohol, die er trank, nur leicht angeheitert. »Bauer!«, rief er quer über die Tafel. »Bauer, du und deine Infanterie. Ihr habt verdammt gut gekämpft heute. Einmal sah es aus, als würdet ihr von den Blaugelben zurückgeworfen. Aber dann ging ein Ruck durch die Reihen, als du nach vorne kamst und die Kerls dich sahen. Sie fürchten deine Exerzierknute. Aber sie lieben dich, weil sie mit dir siegen.«

Der Zar hob sein Glas und trank dem General zu. »Wie heißt das Dorf noch, aus dem du kommst? Ich kann den Namen weder aussprechen noch behalten.« »Eddelak, Euer Majestät, Eddelak«, erwiderte Bauer im Stehen, trank sein Glas leer und verbeugte sich leicht. Über sein gutes Pferdegesicht zog eine leichte Röte der Verlegenheit.
Peter wendete sich Kathrina zu und sprach über den General. »Er hat seinen Soldaten das Exerzieren mit Heu und Stroh beigebracht, Katja. Stroh mußten sie um den linken, Heu um den rechten Fußknöchel binden. Und dann hieß es nicht »links um, kehrt«, sondern einfach: »Stroh«. Und bei »rechts um«: »Heu«. Sie kannten die Begriffe links und rechts nicht, weil sie ihnen niemand beigebracht hatte.«

Der Zar hob erstaunt den Kopf, als ein sich zuspitzendes Rededuell zwischen Griesanow und Menschikow die Tafelrunde verstummen ließ. Griesanow warf Menschikow vor, das Duell verschuldet zu haben. Er rief zornig aus, daß es nichts ausgemacht hätte, wenn hundert Schweden mehr umgekommen wären. Aber das Leben des Zaren aufs Spiel zu setzen, sei ein Verbrechen und ebensolche Strafe wert, wie sie dem Kosakenoffizier Stenka heute zuteil geworden sei. Griesanow, der bei dem Duell nicht dabei gewesen war, behauptete, daß der Zar nicht in diese Gefahr gekommen wäre, wenn er an Menschikows Stelle gestanden hätte.

Menschikow
Bild: Fürst Alexander Danilowitsch Menschikow

Menschikow, dessen schwarzer Schnurrbart zitterte, erhob sich und schleuderte dem Aristokraten Griesanow seine ganze Verachtung ins Gesicht. Griesanow verlor die Beherrschung und erklärte schneidend, daß es seiner nicht würdig sei, sich mit einem hergelaufenen Bäckerlehrling und Sohn eines Stallknechts zu streiten. Schäumend vor Wut goß Menschikow dem Aristokraten roten Wodka über die zerrissene Uniformjacke und schrie: »Du Hund wirst 1000 Meilen von hier in fremder Erde verrecken.« Mit drohender Hand wies er in Richtung Westen. Das mußte den Stolz Griesanows auf die Ahnen und auf die Grabstätte der Familie an der Kremlmauer tief treffen.
Griesanow vermischte vor Erregung Wodka mit Blut und Staub auf seiner Uniformjacke und zeigte nach Osten. »Dich, Alexander Danilowtitsch, wird man eines Tages entlarven und nach Sibirien schicken. Dort, am hintersten Ende der Welt«, und er erhob seine Hand nach Osten, »wird man dich verscharren!« Knallend schlug der Zar mit der Faust auf den Tisch, um dem Streit zwischen den beiden zu beenden. Sein Gesicht begann sich zu verzerren; Schaum trat ihm vor den Mund. Er bekam einen seiner furchtbaren Anfälle, bei denen es verboten war, dabei zu bleiben, wollte man nicht sein Leben riskieren.
Der Saal des Rathauses war im Nu leer. Nur Kathrina blieb bei ihm, streichelte seinen Kopf, nannte ihn »mein Petroschkin«, verbesserte sich aber gleich; sagte »Majestät« und sprach beruhigend auf ihn ein.

Nach Narvas Eroberung blieb der Zar den Schweden auf den Fersen. Durch Pommern und Mecklenburg verfolgte das russische Heer den Feind, der zuletzt über Hamburg und Holstein in die Festung Tönning flüchtete. Der Zar erschien mit seinen Truppen in Dithmarschen.
Der Generalquartierstab unter Griesanow lag in Heide. Die prächtigen Zelte des Zaren standen bei Wollersum an der Eider. Menschikow lag mit seiner Armee zwischen Friedrichstadt und Lunden. An einem Juniabend saßen die Herren des Quartierstabes in Heide beim Kartenspiel. Es wurde viel getrunken, es gab einen Sturz von einer Treppe. Niemand wußte genau, wie und wann. Aber Fürst Griesanow lag mit gebrochenem Genick wachsbleich auf dem Bett in einem Hause am Marktplatz zu Heide, der fast so groß wie der Rote Platz in Moskau vor der Kremlmauer erschien, wenn auch statt der prächtigen Basilika hier nur ein schmächtiges Kirchlein stand.

Die Sonne stach heiß, als Peter und Kathrina gegen Mittag von Lunden her in Heide einfuhren. Ehrfürchtig wurde der große, dunkelgrün lackierte Wagen mit dem Doppeladler der Romanows bewundert, der nahe der Kirche am Markt hielt. Die Popen schwenkten Weihwasser und Kreuze, doch von der griechischen Liturgie verstanden die Heider, die in hellen Scharen dabeistanden, kein Wort.
Katharina mochte Griesanow nicht, doch hatte sein bedingungsloses Eintreten für Peter ihr wohlgetan. »Soll er keinen Stein haben?« fragte sie. Peter sah einen Augenblick nachdenklich aus, ehe er versicherte: »Natürlich, Katja, bekommt Kussmar Griesanow seinen Stein.«, Bauer stand in der Nähe, und Peter rief ihn heran: »Bauer, laß den besten Steinmetzen für Griesanow einen Stein setzen. Dich verstehen die Leute hier.« Bauer wandte sich an die Zuschauer vor der Kirche, und diese staunten nicht wenig, als der prächtig gekleidete russische General in dunkelgrüner, mit Gold belegter Uniform “Dithmarscher Platt” sprach und darum bat, den besten Steinmetzen herbeizuholen. Auch der Steinmetz verlor die Scheu vor den hohen Herrschaften, als Bauer ihm seinen Auftrag im eigenen Platt auseinandersetzte.
Wie groß der Stein werden solle, wurde gefragt, und Peter erklärte, daß kein Grabstein an der Kremlmauer die steinerne Empore überragen dürfe, also auch dieser nicht. Dabei legte er die Hand auf Kathrinas Scheitel zum Zeichen der Höhe. Der Steinmetz fragte nach der Inschrift. »Kommt mit«, sagte Peter, und ging noch einmal an das offene Grab zurück. »Das Datum zuerst. Und dann soll stehen, daß hier begraben liegt Kussmar Griesanow, Sohn Patrekieffs, von russischer Nation«, Peter zögerte einen Augenblick »und vom Hofe des allerdurchlauchtigsten Zaren aller Russen.« Er wandte sich Kathrina zu: ”Komm, Katja, es weht ein guter Wind. Wir wollen hinüber nach Tönning segeln.« Bevor er die Prachtkutsche bestieg, rief er Bauer nochmals zu sich heran. ”Es soll aber in russisch dort stehen. Laß es gut übersetzen und aufschreiben.«

Die Pferde spürten Peitschenknall über dem Rücken, und eh sich‘s die Leute versahen, war die Kaiserkutsche verschwunden. Solche Pracht hatte Heide zu keiner Zeit gesehen.

Alexander Menschikow aber fiel wegen seiner Überheblichkeit in Ungnade. Er starb verbannt in Sibirien und wurde an der hölzernen Kirche zu Bèresow begraben, wo man seinen Stein den ”Griesanowstein« nannte.

 

Aus dem Buch:

“Alte Geschichten aus Dithmarschen” von Waldemar Krause
  mit Illustrationen von Jens Rusch

mit freundlicher Genehmigung der Westholsteinen Verlagsanstalt Boyens & Co., Heide (Holstein)

Quellenangabe:

  • Anton Viethen: Beschreibung und Geschichte des Landes Dithmarschen,
    Ausgabe Hamburg 1733.
  • Bülau: Russische Geheimakten Band IV, Leipzig 1863.
  • Jessipow: Russkij Archiv 1875, Heft 7, 9 und 10.
  • Graf Alexsej Bestushew: Protokolle bis 1744.

Dank an Herrn Heinrich Ahlers aus Brunsbüttel, welcher mir die Geschichte bekannt machte, und die Genehmigung des Autors und des Verlages einholte

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Eddelaker Geschichte(n) ...

DER MENSCHIKOWSTEIN

Ein unter dem Zaren Peter I. (auch der Große genannt) dienender Eddelaker General der russischen Infanterie namens “Bauer” siegte Anfang des 18. Jahrhunderts gegen die Schweden bei Narwa. Er brachte seinen ungebildeten Soldaten das Exerzieren bei, indem er ihnen Heu und Stroh um die Beine band.
Er dolmetschte dem Zaren bei einem Besuch in Heide (Holstein) bei der Bestellung des Menschikowsteines.
Die Geschichte stellt unter anderem das Kriegsgeschehen bei Narwa ungeschönt dar und ist deshalb nicht für jedermann geeignet.

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Der Menschikowstein